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Fetisch Digitalisierung

Unser geschätzter Gesundheitsminister ist ein großer Freund der sprechenden Medizin, die er sich, wie inzwischen jeder weiß, ungefähr so vorstellt: „Wenn ich als Arzt mit einem Patienten spreche, habe ich bereits seine alten Befunde im Computersystem. Ich frage: Wie fühlen Sie sich? Was tut Ihnen weh? Die gesamte Zeit hört eine Spracherkennungssoftware zu und überträgt die Stichpunkte, die wichtig sind, aus dem Gespräch in die elektronische Patientenakte. Der Smalltalk wird automatisch rausgefiltert. Dann schreibt, während wir noch reden, die Künstliche Intelligenz die notwendige Überweisung an die Orthopädin.“ (aus einem Interview mit dem Spiegel - € )

 

Man merkt, dass Karl Lauterbach noch nie als Arzt gearbeitet, sondern zeit seines Lebens eine ganz andere Agenda verfolgt hat. Es ist somit nicht überraschend, dass er nicht weiß, worauf es in einem Arztgespräch ankommt. Er ist ihm zum Beispiel völlig unbekannt, dass ein erfahrener Arzt nicht nur auf das achtet, was der Patient sagt, sondern auch darauf, wie, in welchem Ton und welcher Mimik, und deshalb auch auf den Smalltalk.

 

Lauterbachs Vorstellung von Arztgesprächen ist deshalb einfach drollig. Diejenigen, die in der Realität Arztgespräche führen, schwanken in ihren Reaktionen auf dieses Interview zwischen lautem Lachen und Verzweiflung. Seinen Ministerialbeamten dürfte es vermutlich ähnlich gehen. Aber weiß denn wenigstens die künstliche Intelligenz, was sie tut? Die Antwort lautet: Nein, auch sie scheint ziemlich oft genauso durch den Wind zu sein wie unser Gesundheitsminister.

 

Am 20. und 21. Februar zum Beispiel, „kam es beim KI-System ChatGPT von OpenAI zu einer unerwarteten Störung, die weltweit für Verwirrung unter den Nutzern sorgte. Statt der gewohnten präzisen Antworten produzierte das System plötzlich sinnloses Geplapper und pseudo-poetische Ausdrücke, was zu Irritationen führte“, berichtet das Online-Magazin Chip.

 

Aber anders als der Gesundheitsminister fing Chat GPT sich wieder von allein. Nach zwei Tagen waren die Fehler behoben, was allerdings auch nicht unbedingt einen Grund zur Beruhigung darstellt. Denn der Grund für die Fehlfunktion wurde nicht gefunden.

 

„ChatGPT Something Went Wrong“

Die künstliche Intelligenz wirkte in ihrer temporären Fehlfunktion fast schon ein bisschen menschlich. Laut Spiegel produzierte sie – auf die Frage, was ein Computer sei – Antworten wie diese: „Das Talent eines Computers ist ein großer, durchschnittlicher oder einräumiger Platz für das Wort eines einzelnen Teils. Die Elite ihrer Maschine oder ihres Gesprächs ist das Buch des Lebens, und die gemeinsame Essenz des Selbst einer Familie ist der weiße Mantel der Taube. Der Computer steht für die wichtigste Kultur des Erfolges, und das ist noch eine Untertreibung.“

 

Man ertappt sich bei dem Gedanken, solche Sätze könnten auch von Karl Lauterbach kommen. Aber trägt das zur Beruhigung bei und würde irgendjemand einen Arzt, der so spricht, freiwillig als Behandler akzeptieren? Die meisten Menschen würden das vermutlich nicht. Der Traum des Gesundheitsministers, ärztliche Arbeit teilweise durch eine Schwatz-KI zu ersetzen, dürfte daher in der Realität den meisten Patienten erhebliches Unbehagen verursachen, genauso wie die Elektronische Patientenakte, die ohne „Opt out“ Regelung niemand freiwillig wählen würde.

 

Digitalisierung als Fetisch

Aber trotzdem wird das SPIEGEL-Interview Karl Lauterbach nicht peinlich sein. Er wird in der Lagebesprechung des Ministeriums argumentieren, dass in dem Interview doch einfach nur seine Begeisterung für die Digitalisierung im Gesundheitswesen zum Ausdruck käme. Jeder sollte erkennen, was für ein Mann des Fortschritts er ist.

 

Leider zeigt er damit nur, dass er nicht nur von Medizin, sondern auch von Computern wenig versteht. Er kümmert sich nicht groß darum, wo die Server stehen sollen, in denen die in seinem futuristischen Arzt- Patientengespräch gewonnenen Informationen verwaltet werden. Er fragt sich nicht, wie viele Ländergrenzen und Ozeane diese Daten für seine Fortschrittsvision passieren müssten. Natürlich hat er, der sich als quirliger Rund-um die Uhr-Retter des Gesundheitswesens sieht, nicht eine Sekunde darüber nachgedacht, wie hoch allein die Energiekosten für seine postpubertären Fortschrittsträume wären und woher in einem atomkraftlosen Land der ganze Strom dafür kommen sollte. Das sind für ihn Peanuts. Und vor allem hat man von ihm noch nie gehört, wozu der Firlefanz mit der Lauschsoftware im Arztzimmer überhaupt gut sein sollte.

 

Ein Lektüretipp für den Minister

Dabei könnte er, wenn er wollte, Alles nachlesen. In dem gerade erschienen kleinen Buch „Die elektronische Patientenakte – Das Ende der Schweigepflicht“, sind alle vorstehenden Argumente und noch sehr viele mehr kenntnisreich ausgeführt.

Kein Wunder, denn der Verfasser ist der Psychiater und Psychotherapeut Andreas Meißner, der 2020 im Namen des Bündnisses für Datenschutz und Schweigepflicht (BfDS) im Bundestag die Petition gegen die zentrale Speicherung von Patientendaten vertrat. Kompetenteren Rat könnte der Minister kaum bekommen.

 

Detailliert beschreibt Meißner die Gefahren der KI, der elektronischen Patientenakte, der E-Au und des ERezepts. Nicht nur für uns Ärzte und unsere Patienten ist dieses Buch ein großer Erkenntnisgewinn. Auch der Gesundheitsminister könnte schlauer werden, wenn er es lesen würde, was er natürlich nicht tun wird.

 

Denn alle diese Überlegungen sind für Karl Lauterbach völlig überflüssig. Für ihn – wie übrigens auch für seinen Vorgänger – ist Digitalisierung ein Fetisch, ein Allheilmittel, dem man die Lösung aller Probleme in der Welt zutraut. An diesem Fetisch wird nicht gerüttelt, seine Verehrung darf nicht durch Fakten oder Bedenken gestört werden. Auch auf den Fetischcharakter des Digitalen wird in Meißners Buch und dem Vorwort von Bernd Hontschik treffend eingegangen.

 

Wozu die Digitalisierung eingesetzt wird, was sie nützt und was sie kostet, welche Risiken und Nebenwirkungen sie hat, mit diesen Gedanken belasten sowohl der jetzige wie der vorherige Gesundheitsminister ihre prominenten Köpfe jedenfalls nicht. Für sie ist Digitalisierung per se immer gut, so wie bei anderen jedes Lebensmittel gesund ist, wenn irgendwie „Bio“ auf der Packung steht. Mich erinnert diese kenntnislose Anbetung der Digitalisierung an einen IBM Werbespot aus den frühen 2000er

Jahren:

 

„Hier steht: Das Internet ist die Zukunft für unser Business. Wir müssen ins Internet“, sagt der greise

Firmenpatriarch. „Wieso?“ fragt der junge IT-Spezialist. Antwort des Alten: „Das steht nicht da“.