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„It's All Over Now Baby Blue“

 

Es gibt etwas zu feiern. Deshalb sitzen wir nach einem schönen Surftag am Atlantikstrand und blicken müde und zufrieden auf die Dünung, die in der Abendsonne gemächlich hereinrollt. Unser sehr französisches Hühner-Sandwich-Picknick liegt auf einer Decke bereit. Die Flasche Leoville Barton, Jahrgang 1998, ist schon offen. Aus der Bose Box singt Van Morrison ein Lied von Bob Dylan.

 

Wir heben unsere Gläser auf ein Ereignis, das nur wenige Tage zurückliegt: Seit dem 1. Juli bin ich nicht mehr Kassenarzt und arbeite jetzt nur noch in unserer Privatpraxis. Meine Kassenzulassung erhielt ich zum 1. Juli 1998, zum 1. Juli 2021 gab ich sie wieder ab. Auf beides habe ich mich vorher schon monatelang gefreut.

 

 

Bereits im Medizinstudium strebte ich eine eigene Praxis an. Als es schließlich aktuell wurde, war der Weg in die Niederlassung auch eine Flucht aus der Klinik. Denn selbst mit einer ziemlich gut dotierten Stelle als Leitender Oberarzt war die Fremdbestimmung in der Klinik etwas, was ich nicht auf Dauer ertragen wollte. Was mich besonders störte, war der Reflex der Klinikleitungen auf Abwertungen bestimmter Leistungen. Der bestand nämlich darin, möglichst mehr von

den schlecht bezahlten Therapien zu leisten, um im Endergebnis auf die gleichen Umsätze zu kommen.

 

Für die eigene Praxis hatte ich mir vorgenommen, keine einzige Handlung nur aus Geldgründen vorzunehmen, aber umgekehrt alles zu meiden, was unterbezahlt ist. Letzteres funktionierte am Anfang noch ganz gut, aber ab einem gewissen Punkt war es nicht mehr möglich, einfach weil die gesamte Arbeit unterbezahlt war. 

 

„Leave your stepping stones behind“

Trotzdem habe ich es nie bereut, eine Kassenpraxis aufgemacht zu haben. Trotz aller Abhängigkeiten von den Krankenkassen war ich froh, dass in meinem Laden kein durchgeknallter Controller die Linie vorgab, sondern ich selbst.

 

Den meisten Klinikärzten ist leider nicht bewusst, wie wichtig es für sie ist, dass es starke und gutbezahlte Kassenärzte in eigener Praxis gibt. Klinikärzte können einen höheren Wert ihrer Arbeit durchsetzen, weil sie auch die Möglichkeit haben, - so wie ich damals - in die Niederlassung auszuweichen. Ohne die Alternative der Niederlassung hätten auch die Streiks des Marburger Bundes alleine nicht das bewirken können, was sie bewirkt haben. Wenn es den Niedergelassenen besser ginge, stiege auch der Druck auf die Kliniken, ihre Ärzte besser zu entlohnen.

 

Man merkt an den konzertierten Aktionen von Arbeitgebern, Steuerbehörden und Gesundheitsbürokratie, die diese gegen die freien Honorarärzte unternehmen, wie wichtig es diesen Akteuren ist, Ärzten möglichst wenig Alternativen zur Anstellung zu erlauben. Denn das Vorhandensein von Alternativen verbessert die ärztliche Verhandlungsposition. Die Niederlassung in freier Praxis war lange Zeit eine dieser Alternativen, in Zukunft wird

sie es aber immer weniger sein. 

 

Umgekehrt profitieren übrigens auch die Kassenärzte davon, wenn die Benchmark, das ominöse „Oberarztgehalt“, möglichst hoch ist. Die Spaltung der Ärzte in Angestellte und Niedergelassene war mir daher immer unverständlich.

 Die Flasche Leoville Barton, Jahrgang 1998, ist schon offen. (c) Soyka

 

 

Aber auch die Kassenarztpraxis aufzugeben und nur noch privat weiterzuarbeiten, ist so eine alternative Ausweichmöglichkeit, die die Verhandlungsposition aller Ärzte stärken könnte – wenn sie es nur ausnützten.

 

Privatärzte sind den gesetzlichen Kassen ein Dorn im Auge, obwohl sie diese nicht bezahlen müssen. Denn ein Ausweichen von Kassenärzten in die Privatmedizin zeigt, dass Ärzte auch ohne Arbeitgeber und ohne Kassenzulassung arbeiten können. Die Verhandlungspositionen auch der verbliebenen Kassenärzte wird dadurch stärker. Ein Ende der privaten Gebührenordnung wäre also selbst für die Ärzte von Nachteil, die nur und ausschließlich Kassenpatienten behandeln.

 

Ich selbst beende meine Kassentätigkeit aber nicht aus politischen Gründen, sondern nehme mir am (relativen) Ende meines Berufslebens ein Stück Freiheit. Deshalb freue ich mich über das Ende meiner Kassenzulassung genauso wie damals, als ich sie bekommen hatte.

 

„There's something that calls for you“

Das ist nicht nur die Freude darüber, in Zukunft mehr Zeit für private Interessen zu haben. Es ist vor allem auch die Freude, weiterarbeiten zu können ohne die Zumutungen der Kassenbürokratie, die in den letzten Jahren unter Spahn keinerlei Limit mehr kannten.

 

Es ist auch die Freude darüber, sich mit Dingen beschäftigen zu können, die einem schon vor langer Zeit in der täglichen Arbeit aufgefallen sind. Jeder Arzt, den ich kenne, hat Forschungsfragen, die aus seinem Arbeitsalltag entspringen. Wenn man zum Beispiel über Jahrzehnte dem Kalk in der Schulter mit Stoßwelle und Nadel zu Leibe gerückt ist und darineine gewisse Fertigkeit entwickelt hat, kann einen die Frage bewegen, warum der Kalk überhaupt in die Schulter kommt und warum er sich irgendwann auch wieder auflöst.

 

Das ist eines der Rätsel, die ich persönlich spannend finde. Ich erfülle mir an dieser Frage den Wunsch erfülle, ihr wissenschaftlich nachzugehen, bevor ich zu alt dafür bin. 

 

Am Atlantikstrand mit Blick auf die Dünung, die in der Abendsonne

gemächlich hereinrollt. (c) Soyka

 

Und natürlich entspringt die Freude am Kassenexit auch der Genugtuung darüber, sich die Unverschämtheiten der Kassen nicht länger gefallen zu lassen. Die Höhe der Honorare ist nur eine davon, aber nicht die geringste.

 

„Forget the debt you've left“

 

Um die Honorarfrage zu veranschaulichen, eignet sich der bordelaiser Crus classé aus dem Jahrgang der Praxiseröffnung ganz besonders gut. Dieser Wein kostete in der Subvention umgerechnet unter 40 Euro. In der Euphorie der Praxiseröffnung kaufte ich eine Zwölferkiste. In den Jahren danach stieg der Preis – bis über 200 Euro. Jetzt wo der Wein möglichst bald getrunken werden sollte, ist der Preis wieder etwas niedriger, liegt aber immer noch bei 100 Euro.

 

Einerseits zeigt die Tatsache, dass ich mir diesen Luxus leisten kann, dass man in seiner Arztpraxis nicht verhungert. Aber andererseits auch, dass man Grund hat mit der Honorierung unzufrieden zu sein. Denn während der Preis des Weines exorbitante Steigerungsraten aufwies, blieb der Preis ärztlicher Leistungen seit 1998 praktisch gleich-wobei im Laufe der Zeit zu diesem Preis immer neue Leistungen erbracht werden. Das ist ärgerlich, denn nicht nur diese Flasche Wein wurde so viel teurer, sondern alle Güter und Dienstleistungen. Eine Ware, die 1998 noch einen Preis von 100 Euro (damals noch in DM) hatte, würde inflationsbedingt heute 136 Euro kosten.

 

Noch deutlicher zeigt sich die Wertentwicklung am DAX. Der lag im Juli 1998 bei 6000 Punkten, jetzt steht er bei 15.500.

Mit dem durchschnittlichen Quartalsumsatz ist es leider anders. Die Summe, mit der ich rechnen konnte, quälte sich immer noch um die gleichen Werte, die ich 1998 verdiente. Mein bestes Quartal hatte ich im Jahre 2000 – ein einmaliger Ausreißer, der falsche Hoffnungen weckte. Gleiche Einnahmen bei sonst inflationär gestiegenen Kosten – wenn das kein Grund zur Unzufriedenheit ist.

 

In unserer Praxis ging es uns immer noch ganz gut, weil wir frühzeitig auf eine Privatpraxis setzten. Zusammen mit den Einnahmen von Privatpatienten und Selbstzahlern reichte es daher immer noch zu einem guten Einkommen. Deshalb musste ich den teuren Wein ja auch nicht verkaufen, sondern konnte ihn zur Förderung guter Gespräche am Kamin vertrinken.

 

Auch die Praxisschulden ließen sich begleichen. Hier zu jammern wäre falsch. Aber klar ist auch: Mit Kasseneinnahmen allein wäre die Praxis nicht zu führen gewesen. Deshalb war es keineswegs selbstverständlich, dass es mir gelang, eine gute Nachfolgerin zu finden, die auch noch den Partnern und den Patienten zusagt. Der Preis für die Praxis, den ich forderte, war allerdings auch nicht annähernd so hoch, wie ich es mir vor Jahren erhoffte. Es ist nicht einmal ein schwacher Trost für mich: Viele Praxen werden in der Zukunft überhaupt keine Nachfolger finden.

 

„That will not follow you“

 

Die Gesellschaft hat überhaupt nicht kapiert, welches Kapital an Wissen, Erfahrung und an engagierter Arbeit sie vergeudet, indem sie Ärzte missachtet und frustriert und Ihnen mit Tricks und Ignoranz eine angemessene Honorierung vorenthält. Sie treibt die Ärztegeneration, die ihre Praxen schon weitgehend abbezahlt haben, in den vorzeitigen Ausstieg aus dem GKV-Sektor.

 

Für mich gibt es zwar eine Nachfolgerin, aber ich werde in der Zukunft weniger ärztliche Arbeitskraft und Erfahrung zur Verfügung stellen, indem ich drei Jahre vor dem Beginn des regulären Rentenalters in „Altersteilzeit“ gehe. In anderen Berufen mag das üblich sein, aber viele Ärzte würden durchaus länger arbeiten – auch in der Kassenpraxis. Ich selbst bin körperlich und mental ziemlich fit, und ich bin aus Leidenschaft Arzt.

 

Deshalb könnte ich durchaus noch länger als bis 67 arbeiten. Aber die miese Honorierung, die bürokratische Drangsalierung und auch die darin sich manifestierende Missachtung nimmt mir die Freude am Kassenarztdasein. Wie mir geht es sehr vielen Ärzten aus der „Boomer“generation. 

 

Wenn wir gehen, sieht die medizinische Versorgung in Deutschland ziemlich anders aus als jetzt. Und ich wette:

Es wird den meisten Menschen nicht gefallen.

 

„Well, strike another match“

 

„It‘ all over now?“- genau genommen natürlich nicht. In der Privatpraxis wird einfach ein neues Kapitel aufgeschlagen. Weil in der Privatärztlichen Praxisgemeinschaft auch meine bisherigen Partner und die Nachfolgerin mit von der Partie sind, muss ich mich noch nicht einmal an ein neues soziales Umfeld gewöhnen. Reale 23 Stunden zu arbeiten, ist für manche andere Berufe ein nie erreichter Wert, auch wenn sie 40 Stunden anwesend sind. Aber für einen Arzt ist das nur eine Halbtagsbeschäftigung. Das lässt sich vermutlich aushalten und dieses Match könnte Spaß machen.

 

Mit dieser Kolumne wollte ich niemanden neidisch machen, sondern nur (möglicherweise) den einen oder die andere auf den Geschmack bringen. Ich meine dabei nicht den am Wein, sondern den auf die Privatpraxis, den Song und die Idee, es einmal anders zu versuchen.

 

25.07.2021, 08:23, Autor: Dr. Matthias Soyka, © änd Ärztenachrichtendienst Verlags-AG

Quelle: https://www.aend.de/article/213406