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Zu wenig Impfstoff führt zu Aggression in den Praxen - was sind die Ursachen?

Vor ein paar Wochen stand ich in der Schlange vorm Hamburger Impfzentrum, sie reichte bis zum Bahnhof Sternschanze- war also kilometerlang. Seit meiner Arbeit am Buch „Wahnsinn Wartezeit“ fasziniert mich die Queue. Die Kunst, sich geduldig in eine Warteschlange zu stellen, statt wild um ein knappes Gut zu raufen, ist eine zivilisatorische Glanzleistung. Die Gesellschaften, die diese Leistung aufbringen, haben dadurch erhebliche Vorteile.

 

Denn der Kampf um knappe Güter kostet Energie – körperliche wie soziale. Oft genug wird das, worum gestritten ist, dadurch sogar noch knapper. Das Leben für alle wird unsicherer, wenn über den Zugang zu knappen Gütern dadurch entschieden wird, wie stark und durchsetzungsbereit man ist oder wie viele Söhne man hat. Deshalb lebt man besser in einem Land, das die

Queue kennt.

 

Die Engländer haben es darin zur Meisterschaft gebracht, aber auch in Deutschland ist das zivilisierte Anstehen ganz passabel verankert. Leider droht dieser zivilisatorische Fortschritt in den letzten Jahren wie vieles andere in unserem Land zu verfallen.

 

Rekord-Warteschlange vor Hamburger Impfzentrum

 

In der Warteschlange vor dem Impfzentrum aber blieb die Stimmung gelassen bis ausgelassen, obwohl die meisten Wartenden sich auf eine mehrstündige Wartezeit eingerichtet hatten. Viele Leute unterhielten sich mit anderen in ihrer Nähe und teilten

ihre Freude über den Impftermin. 

 

Wartezeit, auch das habe ich bei den Recherchen zu meinem Buch gelernt, wird meist grob überschätzt. Deshalb tippte ich darauf, dass es nicht drei Stunden, wie die Mitwartenden befürchteten, sondern nur etwa dreißig Minuten dauern würde. Letztendlich waren wir nach 29 Minuten in der Messehalle. 

 

Hier war alles perfekt organisiert – die KV Hamburg ist der Organisator für das größte deutsche Impfzentrum. Die KV kann stolz auf die Organisation dort sein und die Kassenärzte froh, dass die ca. 200 Euro Kosten pro Impfung ausnahmsweise einmal nicht aus ihrem Topf bezahlt werden. (Allerdings könnten sie sich natürlich überlegen, warum sie selbst nur 20 Euro für eine Impfung in ihrer Praxis erhalten.)

 

Innen drin war alles picobello, freundliche und motivierte Mitarbeiter, sowie eine erkleckliche Anzahl drahtiger Security-Leute. Während man in der Schlange stand, ließ sich, wenn man wollte, mit ihnen über so ziemlich alle Kampfsportarten vom Aikido bis zum Takewondo fachsimpeln. Auch wenn echte Nahkampfspezialisten diese Sportarten nicht unbedingt für praxistauglich halten, so waren die jungen Leute doch perfekt trainiert und vor allem extrem guter Stimmung.

 

Ich vermutete, dass die Ursache für das gute Betriebsklima zum einen an dem guten Gefühl liegt, etwas sehr Sinnvolles und sozial Anerkanntes zu tun (Ärzte kennen dieses Gefühl). Zum anderen ist es sehr viel angenehmer, ein Impfzentrum zu bewachen, als irgendeinen C-Promi-Event in einer Kaschemme auf dem Kiez. 

 

Richtig viel zu tun hatten sie nicht. Auf Anfrage bestätigten sie mir, dass sie sich nur sehr selten einmal um

„einen Vollpfosten, der Stress macht“ kümmern müssten.

 

Aggressionen in den Praxen

 

Anders als im Hamburger Impfzentrum kommt es in den Praxen jedoch zunehmend zu verbalen Aggressionen und Bedrohungen. Dies kann man Berichten in der WELT, der FAZ, dem Hamburger Abendblatt und dem ÄND entnehmen. Viele Praxen denken schon daran, das Impfen wieder aufzugeben. Das wäre ein typisches Beispiel dafür, wie der aggressive Kampf um ein knappes Gut dieses Gut weiter verknappen kann.

 

Warum ist es in den Praxen soviel anders als im Impfzentrum?

 

Die Ursache ist wie so oft vermutlich multifaktoriell. Zum einen gibt es natürlich in den Praxen nicht die kräftigen Kerle von der Security, wodurch ein aggressionshemmender Faktor schon einmal fehlt.

 

Zum anderen steht die Urlaubssaison vor der Tür, was zeitlich zusammenfällt mit der Ankündigung, dass jetzt auch die Praxen impfen. Die Impfkampagne in den Praxen wurde von der Politik, aber auch vom KBV Vorsitzenden, direkt mit der Vorstellung verbunden, dass durch sie der „Game Changer“ entstanden sei, der einen normalen Sommerurlaub ermöglichen würde. Und beim Thema Urlaub versteht der Deutsche keinen Spaß.

 

Da muss auch nicht unbedingt nachgefragt werden, ob denn jetzt die Praxis oder doch das Gesundheitsministerium für die Impfstoffknappheit verantwortlich ist. 

 

Eingebaute Vorfahrt

 

Doch die Hauptgründe für das aggressive Drängen sind kultureller Art. Denn während früher das undisziplinierte Drängen eher bei Menschen aus sozial prekären Verhältnissen vorkam (oder auch aus Kulturen, in denen geduldiges Anstehen nicht üblich ist), hat die aggressive Ungeduld schon seit längerem auch Teile der bürgerlichen Mitte der Gesellschaft erfasst.

Der Kampf um den vorderen Platz in der Schlange ist die andere Seite der Selfietrunkenen narzisstischen Gesellschaftsstörung, deren Credo lautet: „Ich zuerst!“

 

Die eingebaute Vorfahrt gehört daher inzwischen nicht mehr nur zur Sonderausstattung von Luxuslimousinen,

sondern auch zu der von Einkaufswagen, Kinderwagen und Fahrrädern. Und anders als in Ländern, in denen um knappe Güter gekämpft wird, geht es beim Drängeln in Deutschland in den meisten Fällen nicht um Knappheit, sondern um die Reihenfolge in der Schlange und den Platz, an dem man steht.

 

Die Praxismitarbeiter kennen dieses Phänomen zu Genüge. In einem Land, das für Alle eine umfassende gesundheitliche Versorgung bereitstellt, um die die Deutschen weltweit beneidet werden, beginnt ein Streit in der Arztpraxis in den meisten Fällen mit dem Satz: „Warum ist dieser Patient vor mir dran?“

 

Unterschiede zum Impfzentrum

 

Doch das sind allgemeine gesellschaftliche Tendenzen. Trotzdem gibt es Gründe dafür, dass „Impflinge“, die nicht schnell genug an ihre Impfung kommen, in den Praxen Stress machen und im Impfzentrum nicht. Das Impfzentrum ist eine Institution, fast eine Behörde. Über eine Arztpraxis wird anders gedacht. Der Hauptgrund dafür ist Gewöhnung. Und zwar die Gewöhnung daran, in der Arztpraxis mehr oder weniger Alles zu bekommen, was man einfordert.

 

Die deutschen Ärzte haben sich viel zu oft in die Rolle des guten Onkels oder der guten Tante drängen lassen (bzw. freudig hineingedrängt), die für alle Sorgen und Nöte der Menschen irgendwie zuständig sind. Sätze wie „Da kann man nichts machen“, „Damit müssen Sie leben“, „Das müssen Sie hinnehmen“, „Darum müssen Sie sich selbst kümmern“, „Dabei kann ich Ihnen nicht helfen“, gelten als herzlos und oft genug als Ausdruck ärztlichen Versagens.

 

Deshalb haben deutsche Patienten hohe Erwartungen an ihre Ärzte. Wenn ich schon den gelben Schein bei kleinsten Wehwehchen bekomme, das Attest fürs Fitnessstudio für umsonst und das Massagerezept obendrauf, dann kann ich auch Verständnis von meiner Ärztin erwarten, wenn ich jetzt schnell geimpft werden muss, um im Urlaub wieder in die Türkei fahren zu können.

 

Deutsche Anspruchshaltung an die Ärzte

 

Diese gewohnheitsmäßige Erwartungshaltung steht am Anfang der Aggression. Die Erwartungshaltung geht mit einem anderen Faktor einher: der Missachtung der niedergelassenen Ärzte durch Politik und Presse. Gerade weil niedergelassene Ärzte so Vieles klaglos mitmachen, wird die Anspruchshaltung noch einmal befeuert. Und das bringt uns wenig Lob, aber viel Missachtung ein.

 

Die meisten Patienten wissen vermutlich nicht, dass wir für eine Impfung mit 20 Euro nur ein Zehntel dessen erhalten, was in den Impfzentren an Kosten anfällt. Aber die Missachtung, die in dieser Unterbezahlung Ausdruck findet, wird psychologisch subtil dennoch gespürt und befeuert so die Aggression. Über ärztliche Klagen wird in der Presse meist süffisant berichtet und nonchalant hinweggegangen. Das finde auch ich gemein, aber es ist auch nicht so verwunderlich. Man soll sich ja besser nicht mit Dingen beschäftigen, auf die man keinen Einfluss hat, sondern sich auf die Sachen konzentrieren, die man ändern kann.

Was wir verbessern können, ist die ärztliche Kommunikation nach außen.

 

Und wir könnten lernen, nicht immer Alles, was von uns gefordert wird, klaglos mitzumachen. Ich rede hier nicht von Streik oder Zulassungsabgabe, sondern davon, dass man auch im Kleinen nicht über jedes Stöckchen springen muss. Es geht schlicht darum, dass wir uns mehr um unser „Standing“, unser Selbstbewusstsein kümmern müssen und damit um das

Einfordern und Durchsetzen von Respekt. Bei der Bezahlung für die Impfung könnte man das doch einmal

ausprobieren.

23.05.2021 13:49, Autor: Dr. Matthias Soyka, © änd Ärztenachrichtendienst Verlags-AG

Quelle: https://www.aend.de/article/212361