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Die Innenstädte und die ambulante Medizin

Wir Ärzte sichern nicht nur die medizinische Versorgung der Bevölkerung des Stadtteils, wir sind auch ein sehr wichtiger Teil der lokalen Wirtschaft. Und wir sind vor allem eine Kompensation für misslungene Stadtplanung. Denn jede Straße und jedes Gebäude profitiert, wenn es dort eine Arztpraxis gibt.

 

Die Kassenärzte halten das Gesundheitswesen am Leben, obwohl die Honorare seit zwei Jahrzehnten praktisch nicht erhöht wurden. In der Pandemie sind sie das wichtigste Bollwerk gegen den unkontrollierten Ansturm von Patienten in die Kliniken. Als Arbeitgeber sind sie ein wichtiger Faktor der Wirtschaft und des Arbeitsmarkts.

 

Diese wichtige Funktionen werden von Öffentlichkeit und Politik gemeinhin nicht gewürdigt.

 

Selbst die hochbezahlten Funktionäre der Ärzteschaft können sich nur selten dazu aufraffen, den Nutzen zu betonen, den die Gesellschaft von den freien niedergelassenen Ärzten hat.

 

Eine andere wichtige Funktion wird in der Öffentlichkeit fast gar nicht wahrgenommen: Die Funktion der ambulanten Medizin für die Innenstädte.

 

Diese Funktion wird viel eher bei anderen Branchen gesehen, z.B. der Gastronomie, obwohl diese nicht in jedem Fall zur Erhöhung der Lebensqualität in einer städtischen Umgebung beiträgt, wovon die Bewohner des Hamburger Schanzenviertels

ein Lied singen können.

 

Wenn jetzt in der Coronakrise die Gaststätten und Hotels leiden – und zwar nicht nur durch die Coronamaßnahmen, sondern auch weil viele Touristen und Einheimische in Pandemiezeiten kein Bedürfnis nach zu großer Enge haben – fallen die negativen Folgen jedem Politiker und Journalisten ins Auge. Selbst der KBV-Vorsitzende sorgt sich um die Hotels mit einer Energie, die man gerne von ihm auch einmal in Honorarverhandlungen sehen würde.

 

Kaum jemand macht sich jedoch Gedanken, wie es in den Städten aussehen würde, wenn wir – die ambulanten Ärzte – dort fehlen würden. Damit sind in diesem Fall nicht die gesundheitlichen Auswirkungen gemeint, sondern die auf die soziale Infrastruktur.

 

Ich kann nur jedem Kollegen empfehlen, einmal ganz bewusst durch das eigene Viertel, die eigene Fußgängerzone zu schlendern, statt wie sonst in Eile hindurch zu hetzen. Wenn man - wie ich es im Sommer einmal tat - jedes Haus bewusst ansieht und sich fragt, was wohl der Beitrag diese Ortes zum Wirtschafts- und Sozialleben sein mag, kann man zu überraschenden Ergebnissen kommen – zumindest, wenn man seine Praxis nicht in einem der besonders wohlhabenden Stadtbezirke hat.

 

Der Stadtteil, in der meine Praxis liegt, dürfte ein ziemlich typisches und durchschnittliches Viertel sein, wie es

viele in Deutschland gibt.

Lohbrügge ist mit 40.000 Einwohnern der größte Stadtteil des Hamburger Bezirks Bergedorf. Dorthin verlegte

ich vor mehr als 20 Jahren einen KV-Sitz aus einem wohlhabenden Innenstadtviertel. Das war schon damals

ziemlich antizyklisch. Dass das Durchschnittseinkommen dort 1/4 niedriger ist als im Hamburger Durchschnitt,

wusste ich nicht. Es war mir aber auch egal. Das Konzept des kleinen Gesundheitszentrums, in das ich einzog,

schien mir zu stimmen. 


Lohbrügge ist mit 40.000 Einwohnern der größte Stadtteil
des Hamburger Bezirks Bergedorf. (c) privat


An Patienten, auch an Privatpatienten, mangelte es nie. Sie kommen teilweise von weit her. Die schmucklose Fußgängerzone hält sie ebenso wenig ab wie die Parkplatzvernichtung und Fahrbahnverengungen, die Menschen, die nicht ganz so gut zu Fuß sind, die Anreise erschweren.

 

Doch die Fußgängerzone – eh schon bescheiden – hat sich im Laufe der Zeit gewandelt. Viele Geschäfte haben aufgegeben. Unser kleines informelles Medizinzentrum mit der Praxisklinik, einer großen Radiologie, einer Dialyse und standhaften anderen Kassenärzten sind fast die einzigen „Geschäfte“, wegen denen Menschen aus anderen Stadtteilen oder Städten hierherkommen.

 

Nur das weitbekannte Garngeschäft, der Juwelier und ein spezialisiertes Bettenhaus locken noch Kunden von außerhalb an, das Nähmaschinengeschäft gegenüber ist schon zu. Der Buchladen hat gerade aufgegeben. Die öffentliche Bücherhalle, die hier so dringend benötigt wird, will die Politik schon in Kürze an einen Standort verlegen, den sie für moderner hält. Das Finanzamt ist schon länger weg.

 

Wenn ich aus der Tür trete, sehe ich verhüllte Schaufenster eines Optikers, der inzwischen umgezogen ist.

Wenn ich nach links zum Sander Damm gehe, fällt mir sofort die große Glückspielhalle auf, die die Straße dominiert. Daneben befindet sich ein Geschäft für Sisha-Bedarf und Hanfprodukte- kein schöner Anblick. Wo die „Model-Wohnungen“ liegen, von denen mir eine Physiotherapeutin erzählte, will ich gar nicht wissen. Das gut laufende EDEKA-Geschäft neben der Bank ist seit Jahren geschlossen – die Mieten waren zu hoch. Dafür sehe ich an der Lohbrügger Landstraße eine weitere Spielhalle.

 

Ich gehe wieder zurück in die Alte Holstenstraße, auch hier in einer Passage wieder ein Spielsalon, noch abgewrackter als die ersten beiden. Die „Brotretter“ haben ihren Laden wieder dichtgemacht. Es gibt noch das Kino und ein paar gute Geschäfte für den lokalen Markt.

 

Dazwischen liegen die Inseln der Gesundheitsbranche: Optiker, Apotheken, Hörgeräteakustiker, zwei

Orthopädiegeschäfte, eine Logopädin, das Rote Kreuz und Ergotherapeuten, sowie diverse weitere

Arzt-, Zahnarzt- und Physiotherapie-Praxen.

 

Aber auch immer mehr 1-Euro-Läden, Pizzalieferdienste und kleine Lokale, die Fleisch aus Gütersloh zu Produkten verarbeiten, die ich nicht esse. Am Ende der Fußgängerzone hält sich wacker ein gutes Café in einem kleinen Einkaufszentrum. Der Elektronikmarkt, der sich in diesem Zentrum befand, ist schon Vergangenheit. Ich mache einen Abstecher nach rechts und komme zu einem Tierfuttermarkt. Daneben: schon wieder eine Glücksspiel-Halle. 

 

Die Alte Holstenstraße sieht kurz vor der Bahnüberführung, wo das „schöne Bergedorf“ anfängt, nicht ganz so toll aus. Hier gab es vor zwei Jahrzehnten eine grandiose Eisdiele, sie ist aber leider nur noch eine Erinnerung. Dafür sieht man dort jetzt - eine weitere Spielhalle. Schräg gegenüber war bis vor ein paar Jahren noch ein MVZ des Asklepioskonzerns. Aber das wurde mitsamt der Arzt-Sitze in einen anderen Hamburger Bezirk verschoben.

 

 

Immer mehr Läden schließen (c) privat

Lohbrügge ist kein Problemviertel. Die Menschen hier sind nicht reich, aber sozial und freundlich. Doch ihr Quartier wurde - wie viele andere im Lande - in den letzten Jahren stark gebeutelt. Die Fußgängerzone und die

angrenzenden Straßen ähneln in gewisser Weise dem deutschen

Gesundheitswesen: Ein schleichender Abstieg wird durch die Menschen,

die dort arbeiten, und durch das Engagement Einzelner gemildert. Doch

man spürt auch: Der Kipppunkt rückt näher. Viel mehr Verluste an guter

Substanz ließen sich nicht mehr verkraften.

Was diese kleine Fußgängerzone und die angrenzenden Straßen rettet,

sind die Initiative einzelner Unternehmer und vor allem die Ballung von

guter Medizin.


Lohbrügge hat eine niedrigere Arztdichte als Gesamt-Hamburg. Aber viele Praxen dieses großen Stadtteils liegen in diesen

Straßen. Sie locken Menschen von außerhalb an, beleben die Szene mit guter Energie. Ohne diese Praxen, die Apotheken und Hilfsmittelgeschäfte sähe es hier sehr viel düsterer aus. Und so dürfte es in vielen anderen Innenstadtbezirken ebenfalls sein.

 

Wir Ärzte sichern nicht nur die medizinische Versorgung der Bevölkerung des Stadtteils, wir sind auch ein sehr wichtiger Teil der lokalen Wirtschaft. Und wir sind vor allem eine Kompensation für misslungene Stadtplanung. Denn jede Straße und jedes Gebäude profitiert, wenn es dort eine Arztpraxis gibt.

 

Vor allem gilt das für die selbstständigen, freien Arztpraxen. Denn diese sind in der Regel ortsständig und mit ihrem Stadtteil verwoben. Wie es anders geht, zeigte das Konzern-MVZ. Bei seinem Weggang nahm es wertvolle KV-Sitze aus dem unterversorgten Lohbrügge mit in einen anderen Bezirk. Vom Standpunkt des Konzerns durchaus verständlich, denn als Portalpraxis funktioniert ein MVZ natürlich besser in der Nähe der eigenen Kliniken. Für den Stadtteil ist es jedoch bitter.

 

Wenn man durch unsere Fußgängerzone geht, erhält man eine Vorstellung davon, welche Folgen das Verschwinden der freien Ärzte, aber auch der lokalen Apotheken und Hilfsmittelverkäufer, für die Infrastruktur der Gemeinden hätte.

 

Aber umgekehrt könnte man darin auch ersehen, welche guten Auswirkungen es hätte, wenn die ambulante Kassenmedizin endlich angemessen gefördert und bezahlt würde. Denn das Geld, das in den ambulanten Bereich des Gesundheitswesens fließt, wirkt in vielfacher Weise positiv. Eine signifikante Erhöhung der Ausgaben für die Kassenärzte würde nicht nur die meisten Probleme der Gesundheitsversorgung lösen, es wäre auch ein Konjunkturprogramm, das in vielen anderen Bereichen Nutzen brächte. Aber das ist natürlich nur eine naive Vorstellung.

 

Denn die Politik hat nicht verstanden, wie wichtig die freien Kassenärzte für das Land und die Menschen sind – für die medizinische Versorgung, als Wirtschaftsfaktor und für das Gesicht der Städte.

 


01.11.2020 08:08, Autor: Dr. Matthias Soyka, © änd Ärztenachrichtendienst Verlags-AG

Quelle: https://www.aend.de/article/208713